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Leseprobe »Künstliche Intelligenz«: Auf der Jagd nach neuen Medikamenten

Seit Jahren steckt die Arzneimittelforschung in der Krise: Es wird immer schwerer, effektive Wirkstoffe zu finden. Viele Pharmakonzerne setzen ihre Hoffnungen deshalb auf künstliche Intelligenz. Aber können die selbstlernenden Algorithmen die Erwartungen erfüllen? Eine Leseprobe
Tabletten und Kapseln in verschiedenen Farben liegen durcheinander.

Bevor ein Wirkstoff für den Einsatz beim Menschen zugelassen wird, muss er zahlreiche Tests durchlaufen. Häufig kommt es dabei vor, dass viel versprechende Kandidaten unerwarteterweise doch noch ausscheiden. Einer der Gründe dafür sind die Cytochrome P450 (CYP450): eine Reihe von Enzymen, die hauptsächlich die Leber produziert. Sie zersetzen verschiedene Chemikalien und verhindern dadurch, dass sich diese im Blutkreislauf zu gefährlichen Mengen aufschaukeln. Wie sich herausstellt, hemmen viele Wirkstoffe die Produktion von CYP450, was sie für den Menschen toxisch macht.

Pharmafirmen versuchen daher vorab herauszufinden, welche Kandidaten eine solche Nebenwirkung haben könnten. Unter anderem analysieren sie das potenzielle Medikament im Reagenzglas, vergleichen, wie ähnliche, bereits bekannte Wirkstoffe mit CYP450 reagieren oder führen Tierversuche durch. Allerdings erweisen sich etwa ein Drittel der so gewonnenen Vorhersagen als falsch. In diesen Fällen zeigen erst Versuche an Menschen, dass sich der Wirkstoff nicht eignet – was hohe Geldsummen und jahrelange Arbeit verschwendet.

Wegen solcher und anderer Schwierigkeiten steckt die Medikamentenentwicklung in der Pharmaindustrie seit mindestens zwei Jahrzehnten in einer Krise. Die Unternehmen geben zunehmend Geld aus – die zehn größten investieren inzwischen fast 80 Milliarden Euro jährlich – und bringen dabei immer weniger erfolgreiche Wirkstoffe hervor. Das hat gleich mehrere Gründe. Zum einen ist das Gebiet abgegrast: Die einfachsten Substanzen, mit denen man häufige Krankheiten behandelt, sind bereits gefunden. Die noch ungelösten Probleme sind extrem komplex. Zudem betreffen viele der anvisierten Erkrankungen nur kleine Teile der Bevölkerung, was zu deutlich niedrigeren Einnahmen führt.

Die durchschnittlichen Kosten für die Markteinführung eines Medikaments haben sich zwischen 2003 und 2013 fast verdoppelt und betragen nun rund 2,3 Milliarden Euro, berichtet das unabhängige Tufts Center for the Study of Drug Development. Auch die Dauer von den ersten Labortests bis zur Zulassung hat sich inzwischen auf zwölf Jahre verlängert. Besonders frustrierend ist dabei, dass etwa 90 Prozent der Medikamente erst in späten Phasen, während der Versuche an Menschen, ausscheiden.

Neue Medikamente durch KI | Selbstlernende Algorithmen durchsuchen riesige Datenbanken nach chemischen Verbindungen, die sich als Medikament eignen könnten.

Deshalb interessiert sich die Pharmaindustrie zunehmend für neue Technologien wie künstliche Intelligenz. Solche Algorithmen brauchen keinen Experten, der ihnen genaue analytische Techniken einprogrammiert. Stattdessen übergibt man ihnen zahlreiche Eingangsdaten (etwa Moleküle) und die dazugehörigen Ergebnisse (wie sich die Moleküle als Wirkstoff verhalten). Die Software entwickelt dann eigene Ansätze, um zu erklären, wie die Resultate zu Stande kommen.

Die Forscher nutzen dabei hauptsächlich zwei verschiedene Formen künstlicher Intelligenz: maschinelles Lernen und das so genannte Deep Learning. Programme aus der ersten Kategorie benötigen geordnete und beschriftete Datensätze, während Deep-Learning-Algorithmen mit unstrukturierten Daten umgehen können – hierbei brauchen sie aber viel größere Mengen. Man kann einem maschinell lernenden Programm zehntausende Bilder beschrifteter Zellen vorsetzen, wodurch es lernt, die verschiedenen Merkmale einer Zelle zu erkennen. Eine Deep-Learning-Version identifiziert hingegen selbstständig die Eigenschaften unmarkierter Bilder, benötigt aber möglicherweise hunderttausende oder gar Millionen Beispiele.

90 Prozent der potenziellen Medikamente scheiden erst durch Versuche am Menschen aus

Viele Wissenschaftler glauben, dass solche Ansätze neue Wirkstoffe hervorbringen und den Prozentsatz zugelassener Medikamente erhöhen werden. Inzwischen haben erste Firmen begonnen, die viel versprechenden modernen Technologien zu nutzen. So haben etwa Forscher des US-amerikanischen Pharmaunternehmens Bristol-Myers Squibb aus New York kürzlich ein maschinelles Lernprogramm entwickelt, das besser vorhersagen soll, welche Arzneimittel die CYP450-Produktion hemmen könnten. Laut Saurabh Saha, dem Senior Vice President für Forschung und Entwicklung des Konzerns, seien die Ergebnisse des Algorithmus um 95 Prozent genauer als herkömmliche Methoden – wodurch sechsmal weniger Medikamente ausfallen würden. »Die KI kann frühzeitig potenziell toxische Wirkstoffe ausschließen, bevor man allzu viel in sie investiert«, sagt der Chief Data and Analytics Officer Vipin Gopal vom US-amerikanischen Pharmakonzern Eli Lilly in Indiana.

Revolution in der medizinischen Forschung oder verfrühte Euphorie?

Die Investitionen in neue Technologien haben sich in den letzten Jahren drastisch erhöht. 2018 konnten neu gegründete Unternehmen, die mit KI-basierten Methoden an Arzneimitteln forschen, bereits über mehr als eine Milliarde Euro verfügen – Tendenz stark steigend. Inzwischen hat jedes große Pharmaunternehmen angekündigt, mit einer solchen Firma zusammenzuarbeiten.

So viel versprechend das auch klingt, einige Experten warnen vor verfrühter Begeisterung. Kaum einer der durch eine KI entdeckten Wirkstoffe ist bisher für Versuche an Menschen vorgesehen – und keiner hat es in die dritte klinische Phase geschafft, den wichtigsten Test für Medikamente. Saha räumt ein, dass sich erst in einigen Jahren zeigen wird, ob sein Unternehmen dank präziser CYP450-Hemmungen wirklich mehr Zulassungen erhält.

Beschleunigte Medikamentensuche | Die Entdeckung eines neuen Wirkstoffs beginnt meist damit, ein »Target« zu identifizieren: ein Protein, das mit einer bestimmten Krankheit zusammenhängt. Ziel ist es dann, eine chemische Verbindung zu finden, die sich an das Protein heftet, um den Krankheitsverlauf zu stoppen. Übergibt man der KI der Arzneimittelfirma Exscientia ein Target, liefert sie Moleküle, die das Protein vielleicht ausschalten könnten. Zudem schlägt der Algorithmus Versuche vor, die dabei helfen, die Liste der möglichen Kandidaten zu reduzieren.

Neben künstlicher Intelligenz haben Pharmafirmen auch in andere innovative Methoden investiert. Seit über einem Jahrzehnt entwickeln Forscher immer bessere statistische Modellierungsprogramme, mit denen sie verschiedene biophysikalische Prozesse am Computer simulieren. Zudem gab es große Fortschritte im Bereich der Bioinformatik, in dem es darum geht, biologische Erkenntnisse aus riesigen Datenmengen abzuleiten. Das ermöglicht es Wissenschaftlern, die Eigenschaften von Molekülen immer korrekter vorherzusagen.

Doch all diese Methoden haben einen Nachteil. Sie hängen vom Wissen der Forscher ab, das in der Regel unvollständig ist. Wenn unklar ist, welche Merkmale entscheidend sind, kann man einer Software nicht sagen, wie sie die Daten verarbeiten soll. KI leitet dagegen eigenständig Erkenntnisse ab, wodurch sie erkennt, welche Informationen wichtig sind und wie sie zusammenhängen.

Selbstlernende Algorithmen lassen sich auf mehrere Bereiche der Medikamentenherstellung anwenden. Einige Firmen konzentrieren sich etwa darauf, einen Wirkstoff zu finden, der ein so genanntes Target effektiv ausschaltet. Dabei handelt es sich meist um ein Protein, das mit einer bestimmten Krankheit zusammenhängt. Forscher suchen dann nach einem Molekül, das an das Target bindet und es so verändert, dass es nicht mehr zur Erkrankung oder ihren Symptomen beiträgt. Das kanadische Biotechnologieunternehmen Cyclica in Toronto arbeitet an einer Software, die biochemische Wechselwirkungen von Millionen verschiedener Moleküle mit etwa 150000 Proteinen abgleicht.

Geeignete Wirkstoffkandidaten müssen aber zusätzliche Hürden überwinden. »Ein Molekül, das mit einem Target reagiert, tut das normalerweise auch mit mehr als 300 weiteren Proteinen«, erklärt Naheed Kurji, CEO von Cyclica. »Die anderen 299 Wechselwirkungen könnten sich katastrophal auf den Menschen auswirken.« Zudem sollten die Wirkstoffe durch den Darm in den Blutkreislauf gelangen, ohne dass die Leber oder weitere Stoffwechselprozesse sie sofort abbauen. Wenn sie an einem bestimmten Ort wie der Niere wirken, dürfen sie andere Organe nicht stören. Und zuletzt müssen sie den Körper verlassen, bevor sie sich zu einer gefährlichen Dosis anreichern. Die Software von Cyclica berücksichtigt all diese Anforderungen.

Biomediziner gehen davon aus, dass an komplexen Krankheiten wie Krebs Hunderte von Proteinen beteiligt sind. Cyclica möchte deshalb Moleküle finden, die mit dutzenden Targets wechselwirken, zugleich aber alle lebenswichtigen Proteine unberührt lassen. Gegenwärtig speisen die Forscher ihre Programme mit anonymisierten genetischen Daten, um herauszufinden, bei welchen Patienten die potenziellen Medikamente am besten wirken. Kurji geht davon aus, dass der siebenjährige Zeitrahmen, den ein Wirkstoff typischerweise bis zu Tests am Menschen braucht, sich um fünf Jahre verkürzen ließe.

Merck und Bayer haben angekündigt, mit Cyclica zu kollaborieren. Weil solche großen Konzerne ihre Forschung vorerst meist geheim halten, ist noch nicht offiziell bekannt, an welchen Wirkstoffen sie arbeiten. Cyclica hat jedoch schon einige erfolgreiche Ergebnisse veröffentlicht. Unter anderem haben die Wissenschaftler zwei Targets identifiziert, die offenbar mit systemischer Sklerodermie – einer Autoimmunkrankheit der Haut und anderer Organe – und mit dem Ebolavirus zusammenhängen. Erfreulicherweise scheinen bereits zugelassene Medikamente, die bei HIV-Erkrankungen und Depressionen eingesetzt werden, die Proteine anzugreifen. Dadurch könnte man die Wirkstoffe schnell für weitere Anwendungen umwidmen.

Selbst wenn man ein Target gefunden hat, weiß man – wie bei etwa 90 Prozent der Proteine im menschlichen Körper – häufig wenig über dessen Struktur und Eigenschaften. Ohne diese Informationen können die maschinellen Lernprogramme aber nicht herausfinden, wie sich ein Protein medikamentös angreifen lässt. Einige Technologieunternehmen widmen sich deshalb diesem Problem.

Die britische Firma Exscientia hat etwa eine Software entwickelt, um Moleküle aufzuspüren, die sich an ein kaum untersuchtes Targetprotein binden könnten. Das Programm liefert bereits ab zehn Daten über das Protein nützliche Ergebnisse, behauptet der CEO des Unternehmens Andrew Hopkins, seines Zeichens Professor für medizinische Informatik an der University of Dundee in Schottland.

KI in der Antibiotikaforschung

Auf der Suche nach neuen, effektiven Antibiotika haben sich Forscher unterschiedlicher Fachbereiche zusammengeschlossen, um zu diesem Zweck künstliche Intelligenz einzusetzen. Im Februar 2020 veröffentlichte das Team um den Biologen James Collins und die Computerwissenschaftlerin Regina Barzilay, beide am Massachusetts Institute of Technology, einen damit identifizierten, viel versprechenden Kandidaten, der auf ungeahnte Weise verschiedene antibiotikaresistente Bakterien bekämpft. Dabei war das Präparat bereits bekannt – allerdings als mögliches Diabetesmedikament.

Seit Alexander Fleming erstmals Penizillin aus Pilzen gewann, diente die Natur als Quelle für antibakterielle Wirkstoffe. Es ist jedoch extrem teuer und zeitaufwändig, tausende natürliche Substanzen zu isolieren und zu analysieren. Daher versuchten Forscher zu verstehen, wie Bakterien leben und sich vermehren, und suchten chemische Verbindungen, die diese Prozesse stören, etwa indem sie die Zellwände der Bakterien beschädigen oder ihre Proteinproduktion hemmen.

In den 1980er Jahren entstanden erste computergestützte Screeningmethoden, mit denen Biologen innerhalb kurzer Zeit viele Stoffe testen konnten. Doch auch das führte kaum zu Fortschritten: Gelegentlich stieß man zwar auf Wirkstoffkandidaten, aber diese ähnelten den bekannten Antibiotika meist zu stark, um bereits resistente Keime anzugreifen. Deshalb haben Pharmaunternehmen die Antibiotikaentwicklung weitgehend aufgegeben und widmen sich lukrativeren Medikamenten.

Die neue Arbeit verfolgt einen ganz anderen Ansatz, der auf den ersten Blick absurd erscheint: Man ignoriert, wie eine Substanz genau wirkt. Stattdessen entwickelten die Forscher ein neuronales Netz, dessen Knoten und Verbindungen den Nervenzellen im Gehirn nachempfunden sind. Anders als Computerprogramme, die Sammlungen von Molekülen nach einer bestimmten chemischen Struktur durchsuchen, lernen neuronale Netze, welche Eigenschaften der Stoffe nützlich sein könnten.

Die Forscher trainierten ihr Netzwerk auf Substanzen, die das Wachstum des Bakteriums Escherichia coli hemmen. Dazu speisten sie es mit mehr als 2300 bekannten chemischen Verbindungen, die Wissenschaftler in Laborversuchen bezüglich dieser Fähigkeit zuvor als »Treffer« oder »Nichttreffer« klassifiziert hatten. Das zeigte dem Algorithmus, welche Atomanordnungen und Bindungsstrukturen relevant sind. Weil nur etwa zehn Prozent dieser Verbindungen bekannten Antibiotika entsprechen, enthält das neuronale Netz keine Vorurteile darüber, wie die Moleküle funktionieren oder aussehen sollen. Somit lernte es auch Substanzen zu identifizieren, die sich von aktuellen Medikamenten stark unterscheiden und daher bisher nicht auf dem Radar waren.

Das trainierte Netzwerk speisten Collins und seine Kollegen mit Daten aus dem »Drug Repurposing Hub«, einer Sammlung von mehr als 6000 Wirkstoffen gegen Krankheiten, die für Versuche am Menschen geprüft werden. Darunter befinden sich auch viele bereits zugelassene Medikamente gegen andere Leiden. Entsprechend »könnte man die Substanzen deutlich schneller klinisch testen«, erklärt der Biologe César de la Fuente von der University of Pennsylvania.

Neuartiges Antibiotikum mit innovativerWirkungsweise

Collins, Barzilay und ihre Kollegen sortierten unter den Ergebnissen jene Verbindungen aus, die bestehenden Antibiotika ähneln, da sie befürchteten, dass diese nichts gegen multiresistente Keime ausrichten. Unter den übrigen Kandidaten stach einer deutlich heraus: der c-Jun N-terminale Kinase-Hemmer SU3327, der aktuell zur Behandlung von Diabetes getestet wird. Die Forscher nannten den Wirkstoff fortan Halicin (als Hommage an HAL, die künstliche Intelligenz aus dem Buch und Film »2001: Odyssee im Weltraum«).

Mehrere Laborversuche ergaben, dass Halicin nicht nur das Wachstum von E. coli stört, sondern auch andere Bakterien abtötet. Zu ihnen zählen Mycobacterium tuberculosis (das Tuberkulose verursacht), Clostridioides difficile (ein häufiger Krankenhauskeim; verantwortlich für einige Magen-Darm-Erkrankungen) und viele weitere, oft antibiotikaresistente Bakterien, die zu Sepsis, Lungenentzündung, Wundinfektionen und anderen verbreiteten, schwer zu behandelnden Infektionen führen. Ebenso viel versprechend erscheint, dass Halicin nach einem Monat wiederholter Anwendung keine resistenten E. coli-Mutanten hervorbrachte, während man bei den meisten Antibiotika bereits nach wenigen Tagen Hinweise auf Resistenzen findet.

Nachdem die Forscher die antibakteriellen Möglichkeiten von Halicin erkannt hatten, führten sie mehrere Experimente zur näheren Erforschung des Wirkstoffs durch. Wie sich herausstellte, stört Halicin die Bewegung der Protonen und das elektrochemische Potenzial der Bakterienmembranen. Reaktionen, die von diesen Protonengradienten abhängen, sind entscheidend für den Stoffwechsel und die Mobilität der Mikrobenzellen – aber Biomediziner hatten sie bisher nicht als Angriffspunkt gesehen.

Nach ihrem Erfolg ließen die Forscher das neuronale Netz auf eine noch größere Datenbank mit mehr als 107 Millionen chemischen Verbindungen los. Der Algorithmus konnte alle Moleküle in nur vier Tagen klassifizieren und identifizierte dabei 23 Kandidaten für weitere Tests.

Collins und sein Team arbeiten nun daran, das Netzwerk genauer auf bestimmte Krankheitserreger abzustimmen. Das könnte zu zielgerichteteren Antibiotika führen, die das körpereigene Mikrobiom schonen.

Katherine Harmon Courage ist Journalistin und schreibt unter anderem für die »New York Times« und das »Quanta Magazine«.

Quelle

Stokes, J. M. et al.: A deep learning approach to antibiotic discovery. Cell 180, 2020

Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete Fassung des Artikels »Machine Learning Takes On Antibiotic Resistance« aus »Quanta Magazine«, einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.

Dabei geht der Algorithmus folgendermaßen vor: In einem ersten Schritt vergleicht er die verfügbaren Informationen mit einer Datenbank, die etwa eine Milliarde verschiedene Wirkungen von Proteinen enthält. Dadurch grenzt das Programm die möglichen Verbindungen ein, die das Target ausschalten könnten. Meist gibt es dann immer noch extrem viele Kandidaten, weshalb die Software zusätzlich angibt, welche weiteren Daten sie benötigt, um die Liste zu verkürzen. Indem die Forscher beispielsweise gezielt Gewebeproben untersuchen, können sie den Algorithmus mit neuen Informationen füttern, worauf dieser nochmals eine Liste generiert und Experimente vorschlägt. Den Prozess wiederholt man so lange, bis man eine überschaubare Anzahl an Wirkstoffkandidaten erhält.

Hopkins zufolge ließe sich so die durchschnittliche Zeit für die Entdeckung eines neuen Medikaments von viereinhalb Jahren auf ein Jahr verkürzen und die Kosten dadurch um 80 Prozent senken. Zudem müsste man nur noch etwa ein Fünftel der bisher benötigten Moleküle synthetisieren, so Hopkins. Exscientia arbeitet aktuell mit dem US-amerikanischen Biotech-Riesen Celgene aus Delaware zusammen, um neue Wirkstoffe für drei Targets zu finden. Eine Kollaboration zwischen Exscientia und dem britischen Pharmaunternehmen GlaxoSmithKline aus London hat bereits zu einer – wie die Unternehmen behaupten – viel versprechenden Verbindung geführt, die chronische obstruktive Lungenerkrankungen behandeln soll.

Baldige Tests am Menschen

Wie erfolgreich Pharmatechfirmen wie Exscientia tatsächlich sind, lässt sich allerdings noch nicht beurteilen. Weil sie erst seit Kurzem existieren, haben es ihre Wirkstoffkandidaten nicht bis in die späten Phasen medizinischer Studien geschafft – was normalerweise fünf bis acht Jahre erfordert. Hopkins hat jedoch angekündigt, dass ein von Exscientia entwickeltes Medikament bereits 2020 an Menschen getestet werden könnte.

Bevor man jedoch daran arbeitet, ein Target zu bekämpfen, muss man dieses erst identifizieren. Bisherige Ansätze basieren häufig auf einem begrenzten Forschungsbereich, dem sich der entsprechende Wissenschaftler widmet. Das verzerrt die Ergebnisse und schränkt die möglichen Kandidaten ein. Zwar findet man oft Proteine, die mit einer Krankheit zusammenhängen, doch sie erweisen sich häufig nicht als Ursache. Speziell dafür produzierte medikamentöse Behandlungen sind dann wirkungslos.

Das US-amerikanische Biotechnologieunternehmen Berg in Massachusetts hat sich deshalb selbstlernenden Algorithmen zugewandt, die Informationen aus riesigen Datenmengen unterschiedlichster Form ziehen sollen: von Gewebeproben über Organflüssigkeiten bis hin zu Blutproben eines Patienten. Diese stammen dabei sowohl von kranken als auch gesunden Menschen und werden in allen Stadien des Krankheitsverlaufs entnommen. Zudem setzen die Forscher lebende Zellen im Labor verschiedenen Bedingungen aus, etwa indem sie den Sauerstoff- oder Glukosegehalt der Umgebung verändern.

»Wir verlassen uns auf drei Dinge: Daten, Daten und noch mehr Daten«
Naheed Kurji

Anschließend übergeben sie ihrem Deep-Learning-Programm all diese Informationen, wodurch es eine Liste von Proteinen erstellt, die eine Krankheit beeinflussen könnten. Hat die Software ein Target gefunden, sucht sie nach Molekülen, die es ausschalten. Durch die vielen Daten lässt sich außerdem vorhersagen, bei welchen Patienten das Target eine Krankheit verursacht. Dadurch können Wissenschaftler die relevanten Merkmale einer Erkrankung bestimmen, etwa den Einfluss gewisser Gene. Künftig könnte man daher schon vor der Einnahme eines Medikaments testen, ob es für einen Patienten wirksam ist.

Viel versprechendes Krebsmedikament

Mit dieser Methode hat Berg den wohl vielversprechendsten Wirkstoff entwickelt, der bisher aus einem KI-bezogenen Ansatz hervorging: Das Krebsmedikament BPM31510. Kürzlich ging eine Phase-II-Studie für Patienten mit fortgeschrittenem Bauchspeicheldrüsenkrebs zu Ende. Phase-I-Studien sagen meist nur aus, bei welcher Dosis etwas giftig ist. Als die Forscher ihren Wirkstoff dabei aber auf andere Krebsarten anwandten, konnten sie überraschenderweise einige Ergebnisse der Software überprüfen: Das Programm hatte zuvor etwa 20 Prozent der Patienten identifiziert, die wahrscheinlich auf den Wirkstoff ansprechen würden, sowie diejenigen vorhergesagt, die mit Nebenwirkungen rechnen müssten. Als die Forscher den Algorithmus mit Analysen von Gewebeproben speisten, kam heraus, dass das neue Medikament am wirksamsten gegen aggressive Krebsarten sei. Denn es greife Mechanismen an, die bei diesen Krankheiten eine wichtige Rolle spielen.

Inzwischen arbeitet Berg mit dem britisch-schwedischen Pharmariesen AstraZeneca zusammen, um Targetmoleküle für Parkinson und andere neurologische Erkrankungen zu finden. Zudem kollaboriert die Firma mit dem französischen Pharmakonzern Sanofi Pasteur, um verbesserte Grippeimpfstoffe zu entwickeln. Darüber hinaus forscht Berg mit dem US-Veteranenministerium und der Cleveland Clinic an Targets für Prostatakrebs. Die Software hat dabei diagnostische Tests geliefert, mit denen man eine solche Erkrankung von einer gutartigen Prostatavergrößerung unterscheiden kann, was derzeit meist eine Operation erfordert.

Mittlerweile haben große Pharmakonzerne mindestens 20 Kooperationen mit modernen Technologieunternehmen angekündigt. Pfizer, GlaxoSmithKline und Novartis bauen zudem offenbar hausinterne KI-Abteilungen auf, um ihre Medikamentenentwicklung zu verbessern.

Viele Forschungsleiter dieser Unternehmen berichten begeistert über ihre Ergebnisse. Dennoch geben sie zu, dass die neuen Methoden noch nicht sicher erprobt sind. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob künstliche Intelligenz die Branche wirklich effizienter macht, sagt Sara Kenkare-Mitra, Senior Vice President of Development Sciences bei der Roche-Tochter Genentech.

Saha betont, dass die Rate zugelassener, KI-entwickelter Medikamente in der nächsten Zeit wahrscheinlich noch niedrig bleiben wird. Sie könnte jedoch drastisch steigen, sofern man die Zulassungsverfahren auf die neuen Systeme anpassen würde. »Wenn die Regulierungsbehörden den gleichen Wert in der KI sehen wie wir, könnte man in einigen Fällen die Tierversuche überspringen und direkt zu Menschen übergehen, sobald man gezeigt hat, dass die Medikamente nicht toxisch sind«, sagt Saha. Solche Szenarien seien aber noch viele Jahre entfernt, räumt er ein.

Der ganze Hype könnte sogar schädlich sein, erklärt Narain von Berg. »Nüchtern betrachtet handelt es sich nur um Werkzeuge, die zwar helfen können – jedoch keine Lösungen liefern«, sagt er. Kurji von Cyclica verurteilt Firmen, die seiner Meinung nach übertriebene Äußerungen aufstellen, etwa die, dass sie viele Jahre der Entwicklung auf wenige Wochen drücken und enorme Geldsummen einsparen könnten. »Das ist einfach nicht wahr«, sagt er. »Und es ist unverantwortlich, so etwas zu behaupten.«

Dennoch glaubt Kurji, dass KI-basierte Methoden die Pharmaindustrie stark verändern werden. Das Hauptaugenmerk liege darauf, hochwertige Informationen für die selbstlernenden Algorithmen zu erhalten. »Wir verlassen uns auf drei Dinge: Daten, Daten und noch mehr Daten«, sagt Kurji. Diese Ansicht teilt Enoch Huang, Vizepräsident für medizinische Wissenschaften bei Pfizer, dem zufolge ein guter Algorithmus nicht der wichtigste Faktor ist.

Forscher führen inzwischen gezielte Experimente durch, um für die KI relevante Informationen zu generieren. »Es gibt nicht immer genügend klinische Daten für das maschinelle Lernen«, sagt Kenkare-Mitra. »Aber wir können sie oft in vitro erzeugen und dann in das System einspeisen.«

Das könnte zu einem neuen Kreislauf in der Arzneimittelentwicklung führen: Computer schlagen Forschern Experimente vor, mit denen diese die Datensätze erweitern, um Letztere danach wiederum den Algorithmen zu übergeben. »Es ist gar nicht so sehr die KI, an die wir glauben«, sagt Kenkare-Mitra, »sondern das Zusammenspiel zwischen Mensch und KI.« Selbstlernende Algorithmen werden die konventionelle Forschung nicht ersetzen, so Saha. Es sei immer noch Aufgabe des Menschen, biologische Erkenntnisse abzuleiten, Forschungsrichtungen festzulegen, Ergebnisse zu interpretieren und die benötigten Daten zu produzieren. Computer unterstützen uns dabei bloß.

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  • Quellen

DiMasi, J. A. et al.: Innovation in the pharmaceutical industry: New estimates of R&D costs. Journal of Health Economics 47, 2016

Kundranda, M. N. et al.: Phase II trial of BPM31510-IV plus gemcitabine in advanced pancreatic ductal adenocarcinomas (PDAC). Journal of Clinical Oncology 38, 2020

Zhu, H.: Big data and artificial intelligence modeling for drug discovery. Annual Review of Pharmacology and Toxicology 60, 2020

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